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Ein Fest für alle Mädchen

„Du hast es mir versprochen. Warum darf ich jetzt nicht mit zum Mädchenfest?“ Lina stemmt verärgert die Hände in die Hüften.

„Warum? Weil du zu klein bist. Darum.“

Linas große Schwester Svenja schminkt sich vor dem Spiegel die Augen, damit sie wie eine Japanerin aussieht.

Hina Matsuri ist für alle Mädchen, für große und kleine“, behauptet Lina.

„Dann geh eben alleine hin, aber lass mich in Ruhe!“ Svenja zupft die Zöpfe ihrer schwarzen Perücke zurecht. Für das Mädchenfest hat Mama ihr ihren Morgenmantel ausgeliehen. Der sieht aus wie ein echter Kimono.

„Du bist so gemein!“, schreit Lina sie an.

„Was ist denn mit euch beiden?“ Mama streckt ihren Kopf ins Zimmer. „Warum streitet ihr euch?“

„Svenja will mich nicht mitnehmen.“

„Das meint Svenja nicht so!„Mama lächelt. „Sie hat es dir versprochen.“ Mama schaut Svenja an. „Wenn du Lina nicht mitnimmst, bekommst du kein Geld für den Eintritt.“

„Das ist gemein“, giftet Svenja. „Ich habe einfach keine Lust auf Linas ewiges Rumgetrödel. Es geht mir auf die Nerven, dass sie immer so langsam ist.“

Am Nachmittag steht Lina staunend vor dem großen Museum, in dem das Mädchenfest stattfindet. Die Steindrachen und die Laternen am Eingang sind festlich mit Fahnen und bunten Girlanden geschmückt. Wie schön das aussieht! Lina kann sich gar nicht sattsehen.

„Beeil dich“, meckert Svenja. „Ich komm sonst zu spät zum Schaulaufen der Kostüme. Das geht gleich los!“

Svenja packt Linas Hand und zieht sie zum Eingang. „Meine Güte, kannst du dich nicht ein Mal beeilen?“

Drinnen kauft Svenja zwei Tickets.

„Ich geh mit dir zusammen zu dem Kostüm-Ding“, sagt Lina.

„Nie und nimmer. Ich hab dein langsames Getue satt. Wenn das Fest vorbei ist, treffen wir uns hier. Bis dann.“ Schon rennt Svenja über die geschwungene Steintreppe nach oben.

Lina steht ratlos mitten in der großen Halle. Hier ist alles voll mit fremden Menschen, und alle drängen und zwängen sich zwischen den Verkaufsständen hin und her. Lina schlängelt sich zwischen den vielen Beinen und Rücken zu einem Büchertisch vor. Da kann man Mangas kaufen. Das sind japanische Bildergeschichten. Svenja und ihre Freundinnen lieben Mangas. Oft verkleiden sie sich, damit sie genauso aus sehen wie die Heldinnen aus den Geschichten.

Lina folgt dem Gedränge zu einem anderen Stand. Da gibt es Sushi. Das sind japanische Reisröllchen mit Fisch. Sie sehen so kunstvoll aus wie seltene Schmuckstücke. Viel zu schade, um sie mit einem Bissen aufzuessen, findet Lina.

Gleich daneben gibt es Süßigkeiten. Pralinen in Rosa, Orange und Blau. Sie sind mit Blättchen und Blüten verziert, und Lina läuft bei ihrem Anblick das Wasser im Mund zusammen.

Da tritt Lina ein großer Mann auf den Zeh.

„Aua!“, beschwert sie sich, aber der Mann beachtet Lina gar nicht. Sie humpelt hinüber zur Steintreppe. Da ist nicht so ein Gedränge. Sie setzt sich auf die unterste Stufe und massiert ihren Fuß.

„Das ist vielleicht ein blödes Mädchenfest“, murmelt Lina ärgerlich vor sich hin.

Als sie aufschaut, entdeckt sie die Puppen. Sie sind etwas kleiner als Linas Barbiepuppen, und sie sitzen auf der roten Treppe gegenüber. Sie tragen schwarz-rote Seidenkimonos und haben einen Picknickkasten mit winzig kleinem Puppengeschirr dabei. Sogar Fächer und Musikinstrumente haben sie. Lina staunt. Wie kann man bloß so kleine Flöten und Trommeln basteln? Und dann erst die kleinen Knöpfe an den Puppenkleidern! Kleiner als Stecknadelköpfe sind die.

„Na, gefallen sie dir?“ Eine Frau in einem japanischen Kimono setzt sich zu Lina auf die Steinstufe. Die Frau lächelt, und ihr Gesicht sieht genauso fein und zerbrechlich aus wie das der Puppen. Ihr Kimono ist aus glänzendem Stoff gemacht und mit bunten Blumen verziert. Um den Bauch trägt die Frau eine gelbe Schärpe, die hinten zu einer großen Schleife gebunden ist.

„Leider kannst du nicht mit den Puppen spielen“, erklärt sie. „Sie sind alt und sehr wertvoll. Nur ein einziges Mal im Jahr werden sie herausgenommen und aufgestellt.“

„Zum Mädchenfest!“, weiß Lina.

„Genau. Ganz oben sitzen die Fürstin und der Fürst – siehst du? Dann kommen die Hofdamen, Diener und Musiker. Sie gucken zu, ob die japanischen Mädchen beim Mädchenfest alles richtig machen. Zu Hina Matsuri kommt viel Besuch nach Hause, und die Mädchen müssen die Gäste bewirten. Dabei müssen sie sich verbeugen, sehr höflich sein und alles ganz genau und richtig machen.“

„Ist das schwierig?“, will Lina wissen.

Die Frau wiegt ihren Kopf. „Man muss es üben, dann ist es nicht schwierig. Du musst dich konzentrieren und alles ganz langsam machen.“

Lina lächelt. Das klingt gut, dass auch mal etwas langsam gehen soll.

„Wenn du sehen willst, wie wir in Japan unsere Gäste bewirten, komm einfach mit. Ich bin Teemeisterin und mache gleich eine Teezeremonie für Kinder.“

Die Teemeisterin geht mit Lina über die Steintreppe in einen großen, hellen Raum. Der sieht irgendwie komisch aus, findet Lina. Wahrscheinlich, weil keine Tische und Stühle darin stehen. Wie soll man denn so Tee trinken?

„Bei einer japanischen Teezeremonie sitzt man auf Tatamis. Das sind Reisstrohmatten, die wie ein Teppich auf dem Boden liegen“, flüstert die Teemeisterin. „Halt. Du musst deine Schuhe ausziehen, bevor du den Teeraum betrittst. Dann setzt du dich einfach so hin wie die anderen. Sprechen ist ab jetzt verboten.“

Die Teemeisterin legt den Zeigefinger an die Lippen und zwinkert Lina zu. Dann geht sie ganz leise über die Matten zur Ecke, in der ein Öfchen und ein Tablett stehen.

Lina setzt sich neben das japanische Mädchen und die beiden Jungs auf die Matte. Ganz still, mit kerzengeradem Rücken hocken die Kinder nun auf ihren Fersen und warten, dass die Teezeremonie beginnt.

Die Teemeisterin kniet sich vor das Tablett, stützt sich auf die Handflächen und verbeugt sich so tief, dass ihre Stirn fast den Boden berührt. Dann bringt sie das Tablett mit den Süßigkeiten zu den Kindern.

„Das sind Dorayaki, Pfannkuchen mit Bohnenmus“, flüstert das Mädchen Lina zu. „Ich bin Ritsuko, mach einfach alles so wie ich.“

Lina schaut genau zu.

Erst verbeugt sich die Teemeisterin, dann verbeugen sich die Gäste.

Auf einer Serviette überreicht die Teemeisterin jedem Kind ein Dorayaki. Die Kinder legen den Pfannkuchen auf die Serviette, die vor ihnen liegt, und warten. Erst als alle einen haben, fangen sie an zu essen. Ganz langsam natürlich, mit winzigen Bissen. Das ist gar nicht einfach, weil der Kuchen so köstlich schmeckt, dass Lina ihn am liebsten ganz schnell aufessen möchte. Aber das wäre sehr unhöflich und gegen die japanische Sitte. Ritsuko knabbert vorsichtig am Kuchen und macht dabei die Augen zu. Eigentlich ist es schön, so zu essen. Ganz in Ruhe und ohne Gedränge. Still und feierlich, als wäre es etwas richtig Besonderes.

Als Lina die Augen wieder aufmacht, sitzt die Teemeisterin wieder drüben am Öfchen. Alle ihre Arbeitsgeräte hat sie auf dem Tablett an einen bestimmten Platz gelegt: Der Bambusquirl, die Schöpfkelle aus Holz, die Teeschalen und eine Dose stehen neben ihr. Aus der Dose nimmt sie grünes Pulver und gibt es in die Teeschale.

„Das ist Matcha-Pulver“, flüstert Ritsuko. „Echter japanischer Tee.“

Die Teemeisterin verrührt das Pulver mit dem Bambusquirl im heißen Wasser, bis es wie grüner Schaum aussieht. Zum Schluss dreht sie die Schale in ihren Händen nach links und nach rechts, und es sieht so aus, als würde sie dabei zaubern. Lina muss an die japanischen Mädchen denken. Das ist richtig kompliziert, wenn man bei der Bewirtung alles richtig machen will. Die vielen Regeln und Handgriffe könnte Lina sich nicht merken. Und dann erst die vielen Verbeugungen!

Die Teemeisterin gibt jedem Kind etwas von dem Teeschaum in einer Schale mit roten Pflaumenblüten. Das sieht sehr hübsch aus, findet Lina. Leider schmeckt der Tee etwas bitter, und Lina hätte gern Zucker dazu. Aber man soll ja während der Teezeremonie nicht sprechen. Lina trinkt den Tee also einfach so.

Und dann ist die Teezeremonie nach einer letzten Verbeugung auch schon zu Ende. „Die ist für dich!“ Die Teemeisterin schenkt Lina die Teeschale mit den Pflaumenblüten drauf. „Du hast alles richtig gemacht – und vor allem langsam, das ist wichtig.“

Als Lina ihrer großen Schwester die tolle Teeschale zeigt, ist die richtig neidisch.

„Tja“, sagt Lina und zuckt mit den Schultern. „Es ist eben nicht verkehrt, wenn man manchmal langsam ist.“

Ende der Geschichte! Hab einen spannenden Tag!

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