Eine Geschichte von Britta Sabbag mit Illustrationen von Igor Lange, erschienen bei arsEdition.
Schon immer, seit jeher, beäugten sich der Tiger und der Löwe prüfend. Sie lebten weit weg voneinander und hatten sich deswegen erst ein einziges Mal getroffen. Doch die Tiere des Dschungels, in dem der Tiger lebte, erzählten immer wieder Erstaunliches.
„Der Löwe ist der König der Tiere. Alle lieben ihn, weil er so eine majestätische Erscheinung ist. Seine Löwenmähne ist einzigartig in unserer Tierwelt, und sein ›Roooaar!‹ ist das lauteste von allen!“
Das ärgerte den Tiger sehr, wollte er doch nicht zugeben, dass es neben ihm eine andere Raubkatze gab, die noch stattlicher war.
Auch der Löwe hörte von den Tieren der Savanne viele Geschichten aus dem entfernten Dschungel.
„Die Streifen des Tigers sind einzigartig, keine andere Raubkatze hat ein solch prachtvolles Fell!“
Der Löwe sah an sich herunter: Kein einziger Streifen war zu sehen.
„Wenn ich nur Streifen hätte“, ging es ihm durch den Löwenkopf, „dann wäre ich noch viel, viel majestätischer!“
Den Tiger wurmte die Sache mit der Löwenmähne so sehr, dass er nachts kein Tigerauge zubekam.
Doch am nächsten Morgen hatte er eine Idee: Er würde sich eine prächtige Löwenmähne selber basteln! Damit wäre er der König der Tiere und noch viel stattlicher, als er es ohnehin schon war. Und dann würden die Tiere des Dschungels nicht mehr denken, dass der Löwe ihm etwas voraushatte.
So sammelte der Tiger so viele Palmblätter, wie er nur finden konnte. Er stapelte sie alle zu einem großen Haufen.
„Das wird reichen“, dachte er zufrieden, „um eine beeindruckende Tigermähne zu bekommen.“
Dann fädelte er mit seinen Pfoten Blatt für Blatt auf eine kleine Liane.
Das war ganz schön schwierig, weil seine Klauen so riesengroß waren.
Aber der Tiger bewies viel Geduld – schließlich würde er am Ende ein noch viel prachtvollerer Tiger sein.
Währenddessen hatte auch der Löwe in der Savanne eine löwenstarke Idee:
Er würde sich selber Streifen malen, sodass er noch viel erhabener wirken würde.
Er sammelte einige Wurzeln des Affenbrot-Baumes, rieb sie und mischte sie mit etwas Wasser und Sand. Das ergab einen herrlich braunen Schlamm, der die perfekte Farbe für die Löwenstreifen hatte.
„Damit werde ich der edelste Löwe, den die Welt je gesehen hat“, brummte der Löwe zufrieden. Er begann, sich mit der Farbe zu bemalen.
Der Tiger indes brauchte Unterstützung, weil seine riesigen Klauen keinen Knoten zustande bekamen. Die Affenfamilie aus der Nachbarschaft kam ihm zu Hilfe und band ihm seine prachtvolle Tigermähne um.
Dann betrachtete sich der Tiger im Fluss, der durch den Dschungel floss.
„Jetzt bin ich der stattlichste Tiger aller Zeiten!“, brüllte er zufrieden.
Doch die Affenfamilie wunderte sich: Wo war ihr furchteinflößender Tiger hin? „Das ist ein ja ein Töwe!“, sagte einer der Affen, und alle lachten.
Auch der Löwe brauchte Hilfe beim Anmalen, denn er kam mit seinen groben Pfoten nicht an alle Stellen heran, besonders nicht an seinen Löwenpo. Der kleine Elefant aus der vorüberziehenden Elefantenherde war bereit, ihm zu helfen. Er sog mit seinem Rüssel eine Portion Pflanzenfarbe auf und spritzte sie dem Löwen auf sein Hinterteil. Der sah jetzt tatsächlich sehr gestreift aus.
Zufrieden betrachtete der Löwe sich in einem Wasserloch.
Doch die Elefantenherde und auch die Gnus und Zebras und sogar die Geier schüttelten die Köpfe: Wo war ihr stattlicher Löwe hin, den sie immer so verehrt hatten?
„Du bist ja ein Liger!“, lachte ein alter Geier, und alle lachten mit.
Der Tiger wollte kein Töwe sein, und der Löwe wollte ebenso wenig ein Liger sein. Sie waren enttäuscht, dass die anderen Tiere über sie lachten, anstatt noch beeindruckter von ihnen zu sein.
Und so beschlossen sie, sich zu treffen, um das Problem aus der Welt zu schaffen.
Sie trafen sich auf einer Lichtung in der Mitte eines Waldes.
Der Löwe war beeindruckt von der prachtvollen Palmenmähne des Tigers. Und der Tiger wunderte sich über die hübschen Streifen des Löwen.
Doch er spürte langsam, wie ihn die Palmblätter überall im Gesicht juckten. Der Tiger kratzte sich mit seinen riesigen Klauen so stark, dass von der schönen Mähne nur noch ein zerrissener Haufen übrig blieb.
„Wenn ich doch nur dieses Ding loswerden könnte!“, fluchte er so leise er konnte. Doch der Löwe hatte ihn gehört.
Plötzlich begann es zu regnen. Die prachtvollen Streifen des Löwen tropften nach und nach auf den Boden, sodass eine braune Pfütze entstand.
Der Löwe schaute traurig zu. Doch der Tiger fand, dass der Löwe seine Streifen gar nicht nötig hatte.
„Immerhin hast du schon deine prachtvolle Mähne“, sagte er zum Löwen.
„Die macht dich zu dem, was du bist. Du brauchst meine Streifen doch gar nicht!“
Der Löwe betrachtete die zerschlissenen Palmblätter, die durch den Regen wie ein trauriges Vogelnest auf dem Kopf des Tigers aussahen.
„Und du brauchst doch gar keine Löwenmähne. Du bist mit deinen wunderschönen Tigerstreifen doch prachtvoll genug!“
Dann murmelte er noch: „Also, ich finde dich sehr prachtvoll!“
„Meinst du?“, hakte der Tiger nach.
Aber auch er fand, dass der Löwe, so wie er war, ganz ohne Streifen, am schönsten aussah.
„Ich glaube, ich bin doch lieber wieder ich selbst“, sagte der Tiger und riss sich die Palmblätter vom Kopf.
Auch der Löwe wollte wieder aussehen, wie er selbst und sprang in eine Regenpfütze.
Er wusch sich die falschen Streifen vom Leib und hatte sich noch nie so wohl gefühlt, er selbst zu sein.
„Ich möchte nie wieder so tun, als wäre ich jemand anderes, als ich bin“, sagte der Löwe. „Das fühlt sich nämlich ganz und gar falsch an.“
„Genau“, nickte der Tiger. „Vielleicht ist es manchmal wichtig, etwas auszuprobieren um festzustellen, dass man sich in seiner Haut am wohlsten fühlt.“
Du hast für diese Geschichte auf diesem Gerät ein Lesezeichen gesetzt. Wenn du sie das nächste Mal öffnest, kannst du an der markierten Stelle fortfahren.
ok, verstanden