Vorlesen verbindet ... für ein starkes Miteinander: eine Geschichte von Sandra Grimm mit Illustrationen von Caroline Orpheys, erschienen bei Penguin Junior
Ein Baumhaus für alle
In einem kleinen Wald nahe der hohen Berge gibt es einen sehr dicken, sehr alten Baum. Seit über hundert Jahren streckt er seine breiten Äste weit aus, um vielen kleinen und großen Bewohnern des Waldes ein Zuhause zu geben. Zahlreiche winzige Tierchen verstecken sich unter seinen Blättern oder in der Rinde: Käfer, Ameisen, Raupen, aber auch Schmetterlinge, Bienen und Mücken summen ein und aus. Die größeren Tiere bauen sich ihre Häuschen zwischen den Zweigen.
Und was für hübsche Häuser das sind!
Ganz oben in der Baumspitze wohnt Fledermaus Fluxi mit ihrem Papa. Fluxi ist eine meistens mutige und wilde Fledermaus, die blitzschnell durch die Zweige sausen kann. Da Fluxi ein Nachttier ist, muss sie eigentlich tagsüber schlafen, doch oft schleicht sie sich noch einmal zu ihren Freunden hinaus.
Dann besucht sie Käthe, das schlaue Streifenhörnchen, das ein Stockwerk unter ihr wohnt. Ganz besonders liebt Käthe ihren Schatz, sie sammelt sie lauter hübsche Fundstücke: glänzende Federn oder glitzernde Steine.
Gemeinsam flitzen Käthe und Fluxi zu Knusper, der noch ein paar Äste tiefer lebt. Als Hamster wohnt er lieber näher am Boden. Will er höher hinaus, muss er über Leitern klettern, er kann ja nicht fliegen. Knusper ist manchmal ängstlich, aber meistens fröhlich – ganz besonders sogar, wenn er etwas zu knuspern findet.
Mit Knusper gehen Käthe und Fluxi dann hinab zu Wolle, der kurz über den Wurzeln wohnt. Er ist ein kluger, gemütlicher Igel, der genauso gern nascht wie Knusper.
Die vier Tierkinder sind fast immer zusammen. Gern besuchen sie Herrn Watschel. Sein Laden befindet sich ganz unten im Stamm des alten Baumes.
Herr Watschel ist ein eleganter Pinguin vom Südpol. Manchmal denkt er sehnsüchtig an seine Heimat zurück, doch ein Besuch der vier kleinen Freunde muntert ihn stets wieder auf.
Gemeinsam lauschen sie dort Brieftaube Trude, die beim Postausteilen die neuesten Geschichten aus dem Baum erzählt.
Auch viele andere Tiere treffen sich hier: Opa Maus, Herr Samuel Salamander, die Eule Frau Pluster, Ente Ottmar oder auch Specht Picker aus der siebten Baumetage.
Wenn die vier kleinen Freunde genug geplappert haben, sausen sie wieder hinauf in ihre Hängematte, die mitten zwischen den dicksten Ästen hängt. Dort fällt ihnen gleich wieder etwas ein und sie landen kurz darauf in einem neuen Abenteuer.
Der alte Baum genießt es sehr, wenn die vielen kleinen Pfoten auf ihm herumspringen und die Tiere lachen, plaudern, summen und singen. Er sieht und hört alles, was zwischen seinen Blättern geschieht, und kennt natürlich auch die Geschichten, die in diesem Buch stehen …
Käthe, Knusper und das Mutigsein
Das war ein wunderschöner Tag!
Die vier kleinen Freunde haben im Fluss gebadet und auf der Wiese Verstecken gespielt.
Nun kommt der Abend. Auf der Wiese wird es leiser und die Sonne geht orangerot unter.
„Wir müssen jetzt ganz dringend heimgehen“, sagt Knusper. „Gleich ist es dunkel. Da darf ich nicht allein unterwegs sein.“ Seine Hamster-Schnurrhaare zittern aufgeregt.
„Ach, du hast immer so viel Angst“, findet Streifenhörnchen Käthe. „Als wir heute Mittag hierhergelaufen sind, hast du dich doch auch nicht gefürchtet. Warum denn jetzt?“
Knusper reißt die Augen auf. „Weil es jetzt dunkel wird. Das ist gruselig!“
Käthe zuckt ungeduldig mit den Ohren. „Du musst einfach ein bisschen mutiger sein. Es ist genau wie heute Mittag, nur ohne Licht.“
„Ich bin ein kleiner Hamster“, wispert Knusper. „Für mich ist Mutigsein viel schwerer als für große Tiere.“
„Ach, ich bin auch nicht groß und trotzdem mutig“, sagt Käthe. „Ich könnte ganz allein nach Hause gehen.“
Knusper bibbert. „Allein? Den dunklen Weg entlang?“
Käthe verschränkt die Arme über der Streifenhörnchenbrust. „Na klar“, sagt sie. „Kein Problem. Ich geh einfach vor und ihr kommt später nach.“
Wolle Igel und Fluxi Fledermaus packen noch am Fluss die Picknicksachen zusammen. Sie wollten doch zusammen heimgehen!
Knusper sieht Käthe nachdenklich hinterher. Sie hat einen Stock in der Hand, mit dem sie fröhlich in der Luft herumwedelt. Hat sie denn gar keine Angst? Knuspers Knie zittern schon, wenn er nur daran denkt, allein im Dunkeln zu spazieren.
Käthe wandert entschlossen durchs Gras. Mittlerweile ist es ziemlich dunkel geworden. Alles sieht jetzt irgendwie anders aus. Käthe umklammert den kurzen Stock. Sie ist wirklich ein sehr mutiges Streifenhörnchen, aber jetzt rauscht der Wind in ihren Ohren und überall knackt und knarzt es unheimlich.
Sie singt vor sich hin: „Das ist nur die Nacht, die Nacht, die Nacht, die leis für sich lacht und lacht und lacht …“ Doch es hilft nichts. Mutigsein ist wirklich schwierig, der Hamster hatte recht. Ihr Hörnchenherz klopft wie verrückt. Und dann – huch! – knackt es direkt neben ihr. Da ist jemand!
„K-k-käthe, b-b-bist du’s?“, fragt ein zitterndes Stimmchen.
„Knusper!“, ruft Käthe erleichtert. „Was machst du denn hier?“
Knusper drückt sich an Käthes Seite. „Ich bin auch manchmal mutig, weißt du“, sagt er. „Aber … ich bin viel mutiger, wenn wir zu zweit sind.“
Käthe legt glücklich ihren kuschelweichen Schwanz um den kleinen Hamster. „Das ist bei mir genauso“, sagt sie.
Und dann gehen sie, eng nebeneinander, den langen dunklen Weg entlang.
Jetzt ist es gar nicht mehr so gruselig. Gemeinsam singen sie: „Das ist nur die Nacht, die Nacht, die Nacht, die leis für sich lacht und lacht und lacht …“ Das ist viel lauter als das Knacken und Knarzen des Waldes.
Es dauert nicht lange, da sehen sie ihren großen Wohnbaum, in dem viele Fenster und Laternen leuchten, die ihnen den Weg nach Hause weisen.
„Danke, dass du mir nachgelaufen bist“, flüstert Käthe. „Das war sehr mutig von dir.“
Knusper kichert. „Du warst ein Stück alleine mutig und ich war ein Stück alleine mutig. Aber viel schöner ist es, zusammen mutig zu sein.“
Knusper, Wolle und der Wachnasenkuss
Der große alte Baum seufzt zufrieden, als es abends in seiner breiten Krone ruhiger wird und die Tiere sich nach und nach schlafen legen. Er mag es, dass sie sich bei ihm wohlfühlen. Glücklich raschelt er mit den Blättern und knarzt ein bisschen vor sich hin.
Er weiß ja nicht, dass in einem Bettchen auf einem seiner untersten Äste ein kleiner Hamster liegt, der absolut nicht einschlafen kann. Denn obwohl er sich bemüht, seine Hamsterbeine ganz still zu halten, schlagen seine Gedanken immer noch Purzelbäume.
Warum? Na, Wolle hat heute seine Käsespieße mit ihm geteilt. Und er hat Knusper sogar den größten Spieß gegeben, obwohl der kleine Igel doch selbst so gern futtert – und Käse am allerliebsten!
Nun kann Knusper nicht schlafen. Das war soo lieb von Wolle!, denkt er. Da muss Knusper unbedingt auch mal was Liebes für den Igel machen. Aber was? Knusper grübelt und grübelt – was könnte er mit Wolle teilen? Lange schaut er auf den silbernen Mondstrahl, der langsam über seine Bettdecke wandert. Das sieht schön aus … Plötzlich hat Knusper eine Idee. Er hüpft aus seinem Bett und krabbelt flink wie ein Rennhamster die Äste entlang zu Wolles Häuschen. Leise klopft er an die Tür.
„Wolle? Ich bin’s“, flüstert Knusper.
„Mmh, komm rein, ich schlaf schon“, brummt der Igel.
Knusper schleicht sich zu ihm. Oh, wie gemütlich sieht das aus! Der Igel liegt auf dem Rücken und sein weiches Bäuchlein schimmert hell im Mondschein.
„Darf ich mich zu dir legen?“, fragt Knusper.
„Mmh“, brummt Wolle.
Knusper klettert in das runde Igelbett und schiebt seine kalt gewordenen Pfötchen unter Wolles warme Decke.
„Ich kann nicht einschlafen“, erklärt Knusper ihm. „Du hast heute so nett deinen Käse mit mir geteilt und nun überlege ich die ganze Zeit, was ich mit dir teilen kann. Deshalb bin ich piepswach. Das ist aber gar nicht schlimm, denn nachts kann man den Mond anschauen. Das ist so schön – das möchte ich dir schenken.“
„Mmh, danke“, sagt Wolle und öffnet ein Auge, um den Mondstrahl anzusehen. „Sehr hübsch.“
Knusper gähnt. „Genau. Und damit du auch richtig hingucken kannst und nicht zu früh einschläfst, teile ich jetzt mein Wachsein mit dir.“ Knusper reibt sein Näschen an der Igelnase. „Das ist ein Wachnasenkuss“, sagt er. Dann gähnt er so sehr, dass Wolle seine kleine Hamsterzunge sehen kann.
„Hmm“, überlegt Wolle. „Wachsein kann man nicht teilen. Wer müde ist, bleibt müde.“
„Ach so?“, murmelt Knusper. Das wusste er gar nicht. Ist ja auch egal. Immerhin hat er Wolle jetzt einen Nasenkuss gegeben, das reicht auch. Zufrieden kuschelt er sich an den warmen Igelbauch.
Wolle lächelt und macht die Augen zu. Dann macht er sie wieder auf. Denn jetzt ist er piepswach. Er seufzt. Offenbar kann man Wachsein doch teilen …
Zum Glück raschelt der Baum immer noch mit seinen Blättern, sodass Wolle ihm zuhören kann, während er beobachtet, wie der Mondstrahl ganz langsam über das weißbraune Hamsterfell wandert.
Du hast für diese Geschichte auf diesem Gerät ein Lesezeichen gesetzt. Wenn du sie das nächste Mal öffnest, kannst du an der markierten Stelle fortfahren.
ok, verstanden