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Sprung ins Glück

Meryem nimmt Anlauf. Sie rennt über den Hügel runter auf den Sandkasten zu. Unten gibt sie noch mal Gas.

„Schneller!“, ruft Timon. „Jetzt!“

Meryem drückt sich am großen Stein vom Rand des Sandkastens ab und springt. Mit angezogenen Knien fliegt sie über die zwei aufeinandergetürmten Plastikeimer und landet auf Fersen und Popo im Sand.

„Puh“, macht Meryem und rappelt sich hoch. „Du bist dran!“

Timon verzieht das Gesicht.

„Ich hab keine Lust!“

„Wie, keine Lust? An Newroz springen alle übers Feuer. Du musst üben, wenn du mitmachen willst. Los, komm!“

Meryem zieht Timon hoch und gibt ihm einen Schubs. Widerwillig trottet er zum Ausgangspunkt an der Birke. In seinem Bauch spürt Timon ein merkwürdiges Grummeln. Sicher ist das die Aufregung.

Morgen, zu Frühlingsbeginn, feiert Meryem Newroz, das kurdische Neujahrsfest. Meryem, ihre Familie und alle ihre Freunde machen ein großes Lagerfeuer. Erst gibt es Musik und Tanz, und wenn das Feuer ein wenig heruntergebrannt ist, springen alle über die Flammen. Allein, zu zweit oder manchmal sogar zu dritt. Meryem meint, dass die Freundschaft besonders lange hält, wenn man zusammen übers Feuer springt. Außerdem bekommt man durch das Feuer Kraft und Mut. Das könnte Timon gut gebrauchen. Er weiß nämlich nicht, ob er sich traut, übers Feuer zu springen. Denn wenn man nicht hoch genug springt, kann man sich leicht verbrennen.

„Timon!“, ruft Meryem und winkt. Sie steht unten an der Sandkiste, und ihre schwarzen Haare glänzen in der Sonne. „Na los!“

Genau in dem Moment merkt Timon, dass ihm sein Schnürsenkel aufgegangen ist. Umständlich kniet er nieder und knotet eine Schleife. Natürlich ist es toll, dass Meryem ihn als Einzigen aus der Kita zum Newroz-Fest eingeladen hat. Wenn nur dieser Sprung übers Feuer nicht wäre. Drei Mal hat Timon den Turm aus Eimern schon umgeworfen, weil er nicht hoch genug drübergesprungen ist. Aber sicher klappt es jetzt. Timon richtet sich auf und trabt los. Unterhalb des Hügels rennt er, so schnell er kann. An der Sandkiste federt er hoch und rudert im Sprung mit den Armen in der Luft.

Plonk!, wieder hat Timon den Eimerturm umgeworfen.

„Du musst die Beine mehr anziehen“, erklärt Meryem.

„Das wird nie was!“ Wütend schlägt Timon mit der Hand in den Sand.

„Meryem!“

Das ist Meryems Mama. Sie steht drüben auf der Veranda vor dem roten Holzhaus. „Komm, den Teig machen!“

Sofort ist Timon auf den Beinen. Beim Kochen helfen mag Timon viel lieber, als über Eimer springen.

Die Küche in Meryems Haus ist voll mit Frauen. Gemeinsam bereiten sie das Fest vor. Auf einem extra Tisch stehen schon herrliche Torten, Kuchen und Salate bereit. Meryem erklärt Timon die Speisen.

Meryems Mama gibt Timon und Meryem zwei hohe Gläser mit Ayran. Das Getränk aus Joghurt, Wasser und Zitronensaft schmeckt richtig erfrischend.

Timon und Meryem haben weiße Joghurtbärte, als sie ausgetrunken haben. Das sieht interessant aus.

„Zieht euch mal Schuhe und Strümpfe aus. Dann zeig ich euch, wie wir als Kinder den Teig gemacht haben.“ Meryem zeigt Timon das Bad. Dort waschen sich beide ganz gründlich die Füße. Sie legen die Handtücher auf den Boden und rutschen darauf zur roten Wanne in der Küche. Meryems Mama kippt einen kleinen Eimer Wasser zum Mehl. „Ihr müsst mit den Füßen so lange den Teig stampfen, bis er richtig zäh geworden ist.“

Meryem und Timon halten sich aneinander an den Schultern fest, damit sie in der Wanne beim Teigmatschen nicht ausrutschen oder umkippen. Bald klebt der Teig an ihren Füßen wie Kaugummi. Timon und Meryem kichern. Die Teigmasse quillt wie Würmer zwischen ihren Zehen hervor. Die beiden treten und treten, und dabei erzählt ihnen Meryems Mama die Geschichte vom Newroz-Fest.

„Vor langer, langer Zeit gab es einen richtig bösen König. Sein Name war Dehok, und er fraß jeden Tag die Gehirne von zwei Kindern. Die Menschen hatten große Angst vor seiner Grausamkeit. Natürlich wollten sie nicht, dass Dehok ihre Kinder fraß. Und so versteckten sie sich vor ihm in den Bergen. Aber Dehok fand sie trotzdem und holte sich wieder Kinder. Da sagte der Schmied Kawa: 'Es reicht, Freunde. So kann es nicht weitergehen, wir müssen uns wehren.'

'Aber wie denn?', jammerten die Leute. 'Dehok ist viel mächtiger als wir, und er hat viele Soldaten!'

Kawa überlegte. Und da fiel ihm ein guter Plan ein. Er verkleidete sich als Frau und versteckte seinen großen Schmiedehammer unter der Schürze. So ging er zu Dehok.

'Hast du keine Kinder dabei?', fragte Dehok. 'Ich brauch was zu fressen.' Aber Kawa antwortete nicht. Er nahm einfach seinen Hammer hervor und schlug Dehok damit auf den Kopf. Dehok fiel tot um. Kawa zündete ein großes Feuer an, damit die Leute im ganzen Land Bescheid wussten, dass Dehok besiegt war. Da kamen die Menschen aus ihren Verstecken hervor und tanzten, feierten und freuten sich.“

„Deshalb ist Newroz ohne Feuer kein richtiges Fest“, erklärt Meryem.

„Verstehe“, sagt Timon schwer atmend. „Ich glaube, der Teig ist jetzt fertig.“

Abends liegt Timon im Bett und hört zu, wie der Frühlingssturm draußen am Fenster rüttelt.

„Freust du dich?“, fragt Papa und drückt um Timon herum die Decke fest, damit er nicht friert.

„Ich weiß nicht, ob ich hingehe“, mault Timon. Und dann erzählt er Papa alles über Newroz und dass er Meryem versprochen hat, mit ihr über die Flammen zu springen.

„Ich habe einen Vorschlag“, sagt Papa. „Wir schauen uns erst mal alles in Ruhe an. Und wenn du keine Lust hast, dann springst du nicht. Klar?“

„Klar“, flüstert Timon, und Papa gibt ihm einen Kuss auf die Nase.

Als Timon und Papa mit dem Auto auf den Parkplatz von Meryems Siedlung fahren, ist das Fest schon im Gange. Der Wind trägt Musik und Gelächter herüber. Auf dem Platz zwischen den Häusern machen zwei Männer Musik mit einer großen Trommel und einer Flöte.

Meryem hat Timon sofort entdeckt. Sie sieht toll aus in ihrem neuen orangeroten Kleid und in ihren roten Glitzerschuhen.

„Komm, ich zeig dir, wie wir tanzen!“ Meryem zieht Timon mit sich zu den Musikanten. Erwachsene und Kinder haken sich mit dem kleinen Finger ineinander ein. Dann geht es los. Meryems Papa ist der Anfang der Tanzschlange und schwenkt ein Taschentuch in seiner Hand.

„Zweimal hinten überkreuzen, dann vorne und dann vor und zurück“, erklärt Meryem. Timon findet die Tanzschritte ganz schön kompliziert. Aber zum Glück ist es egal, ob man was falsch macht. Hauptsache, man ist dabei!

Meryems Wangen sind rot vor Freude, und sie hält Timons Finger so fest eingehakt, dass er noch einen zweiten Tanz mitmachen muss. Danach brauchen die Musiker zum Glück eine Pause.

»Komm, wir holen uns Gözleme!«, schlägt Meryem vor.

Neben dem Haus haben drei Frauen ein kleines Feuer angefacht und ein großes gewölbtes Metallhütchen darüber gestellt. Sac heißt diese Pfanne, und darauf werden ganz dünn ausgerollte Pfannkuchen gebacken. Die sind mit Spinat und Käse gefüllt, andere mit Lammfleisch, Pilzen und Zwiebeln. Timon und Meryem entscheiden sich für Käse mit Spinat.

Es schmeckt so herrlich, dass Timon gleich zwei Gözleme isst.

Er und Meryem sehen zu, wie Meryems Onkel die Holzscheite an der Feuerstelle anzündet.

„Das wird toll“, flüstert Meryem. Es knackt und knistert, und der Wind fährt in die Flammen, dass das Feuer zwischen den Scheiten hochzüngelt. Timon muss husten, weil der starke Wind den ganzen Rauch herüberweht. Schon fängt die Musik zu spielen an, und die Leute tanzen um das Feuer.

Wäre ich doch bloß weit weg, denkt Timon. Zu Hause im Bett oder im Geheimversteck im Wald. Da spürt Timon etwas auf seiner Nasenspitze … dann auf seiner Wange … und jetzt in seinen Haaren! Schwere, dicke Wolken hat der Wind herangetragen. Und eine davon hängt genau über ihnen.

„Oh nein! Regen!“, ruft Meryem. „Ausgerechnet jetzt!“ Tropfen platschen und prasseln. Die Gäste und Musiker laufen schreiend unter das Dach der Veranda.

Gleich hat der Schauer die Flammen gelöscht.

„Komm, lass uns springen!“, ruft Meryem. Sie packt Timons Hand, und zu zweit nehmen sie Anlauf.

„Jetzt“, ruft Timon. Und dann springen die beiden hoch.

„Bravo!“ Die Leute klatschen.

„Schade, dass das Feuer schon aus war“, sagt Timon. Denn so gut ist er noch nie gesprungen.

Ende der Geschichte! Hab einen spannenden Tag!

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