Eine Geschichte von Saskia Hula mit Illustrationen von Kerstin Schoene, erschienen im Loewe Verlag.
An einem schönen Morgen beschloss Pai, der Kleine Panda, einen Spaziergang zu machen. So langsam, fand er, war er groß genug für ein bisschen Abenteuer.
Außerdem passte es gerade sehr gut.
Pandapapa schlief noch tief und fest. Pandamama schlief auch noch.
So konnten sie nichts dagegen sagen.
Und gute Ratschläge konnten sie ihm auch keine geben.
Pai musste nur einen Ast finden, der sich für einen Ausbruch aus seinem Gehege eignete.
Aber das war wirklich nicht schwierig.
Im Wildpark war es noch sehr ruhig. Nur in der Ferne klapperten die Pelikane.
Pai spazierte immer der Nase nach: nach rechts und nach links, nach rechts und nach links, nach rechts und – weil es gerade keine Abzweigung gab – ganz lang geradeaus
Dann hatte er genug gesehen. Außerdem zwitscherten schon die Vögel, also war es höchste Zeit fürs Frühstück.
Pai drehte sich um … und ging nach links und nach rechts, nach rechts und nach links und irgendwo auch ein langes Stück geradeaus. Als er bei den Pelikanen landete, wusste er, dass er sich verlaufen hatte. Denn die Pelikane wohnten am anderen Ende des Wildparks. In der Ferne, sozusagen.
„Guten Tag“, sagte Pai zu einem Pelikan.
„Was gibt’s?“, knurrte der Pelikan, der gerade dabei war, einen Fisch zu verschlucken.
Der Fisch zappelte, der Pelikan klapperte, dann rutschte ihm der Fisch aus dem Schnabel und sprang ins Wasser.
Verärgert sah ihm der Pelikan nach.
„Ich hätte da eine Frage“, sagte Pai. „Ich habe mich nämlich verlaufen.“
„Kein Wunder “, schnarrte der Pelikan. „Was läufst du hier auch alleine herum?“
„Ich wollte ein bisschen Abenteuer“, antwortete Pai.
Der Pelikan musterte ihn misstrauisch. „Abenteuer, soso! Wohin gehörst du überhaupt? So einen wie dich hab ich ja noch nie gesehen.“
Pai machte sich groß. „Ich bin ein Panda …“
„Unsinn!“ Der Pelikan klapperte ungeduldig. „Glaubst du, ich habe noch nie einen Panda gesehen, hä? Zufällig bin ich in einem großen und berühmten Zoo geboren – und zufällig habe ich dort genau neben den Pandas gewohnt! Deswegen weiß ich auch, wie echte Pandas aussehen: nämlich riesengroß und schwarz und weiß!“
„Schwarz und weiß?“ Pai schaute an sich herunter. „Und riesengroß? Sind Sie sicher?“
„Todsicher.“ Der Pelikan schnappte sich blitzschnell einen neuen Fisch.
„Hm“, überlegte Pai. „Aber was bin ich denn dann?“
Der Pelikan legte den Kopf in den Nacken, schluckte den Fisch und schüttelte sich.
„Woher soll ich das wissen, hä?“, knurrte er. „Ein dicker Fuchs vielleicht. Zu den Füchsen ist es nicht weit, immer geradeaus, hopp, hopp!“
Der kleine Panda rannte los. Es war wirklich nicht weit zum Gehege der Füchse.
Drei Fuchsjunge tollten um ihre Mutter herum. Und sie sahen tatsächlich ein bisschen aus wie er …
„Entschuldigung“, sagte Pai. „Kann es sein, dass ich zu euch gehöre?“
Die Fuchsmutter schaute ihn belustigt an. „Du? Nie im Leben! Dafür bist du viel zu kugelig! Füchse haben nämlich eine sehr sportliche Figur!“ Dabei stand sie auf und streckte sich ausgiebig.
„Aber was bin ich dann?“ Pai kratzte sich hinter dem Ohr.
Die Fuchsmutter legte den Kopf schief. „Wenn du mich fragst: Eine Mischung aus Katze und Bär. Eine Bärenkatze. Oder ein Katzenbär. Falls es so etwas überhaupt gibt.“
„Aha.“ Pai war jetzt doch etwas verwirrt. „Dann frage ich am besten bei den Bären nach oder bei den Katzen. Je nachdem, wen ich zuerst finde.“
Zum Glück wohnten der Bär und die Wildkatze gleich nebeneinander.
„Kann es sein, dass ich zu einem von euch gehöre?“, fragte Pai einmal nach rechts und einmal nach links. „Zu den Bären? Oder zu den Katzen?“
„Zu den Bären vielleicht“, sagte die Wildkatze und gähnte. „Es gibt ja jede Menge Bären auf der Welt: schwarze und braune und weiße …“
„Unsinn! Da könnte ja jeder kommen!“, brummte der Bär. „Bären sind groß und stark. Aber eine Katze könntest du sein. Es gibt ja jede Menge Katzen auf der Welt: große und kleine, einfarbige und gestreifte …“
„Blödsinn“, fauchte die Katze. „Katzen sind Weltmeister im Klettern und …“
„Klettern kann ich aber!“, rief Pai aufgeregt. „Willst du mal sehen?“
Blitzschnell kletterte er einen Baum hinauf. Doch die Wildkatze winkte ab. „Und wenn schon! Affen können auch klettern, aber deswegen bist du noch lange kein Affe, oder?“
Pai überlegte. Ein Affe? Nein, das schien ihm doch sehr weit hergeholt.
„Jetzt mach doch den Kleinen nicht ganz verrückt“, grummelte der Bär.
„Aber was bin ich dann?“, rief Panda Pai. Er fühlte sich langsam ziemlich verloren. Wie sollte er jemals nach Hause finden, wenn er keine Ahnung hatte, wohin er gehörte?
Die Katze zuckte mit den Schultern. „Was weiß ich … ich kann mich ja nicht mit allen Tieren auskennen!“
Der kleine Panda tapste weiter. Inzwischen waren schon die Stimmen der ersten Parkbesucher zu hören. Schnell versteckte Pai sich im Gebüsch. Aber auch hier war er nicht allein.
„Verschwinde!“, fuhr ihn eine mürrische Stimme an. „Das ist mein Busch!“ Pai drehte sich erschrocken um. Hinter ihm hockte ein fremdes Tier mit einer schwarzen Maske im Gesicht. Davon abgesehen sah es aber fast aus wie Pandamama und Pandapapa, nur nicht wirklich rot …
„Entschuldigung“, sagte Pai aufgeregt. „Gehörst du vielleicht zu meiner Familie?“
„Sicher nicht!“, brummte das Tier. „Ich gehöre überhaupt zu niemandem.“
„Oh“, sagte Pai. „Das tut mir leid. Und wer bist du?“
„Ich bin eine Waschbärin“, grummelte das Tier. „Aber jetzt mach, dass du …“
„Oh!“, rief Pai. „Also gibt es doch kleine Bären!“
„Quatsch“, sagte das Tier. „Ich heiße nur so. Seehunde sind ja auch keine richtigen Hunde. Und Nilpferde keine Pferde, Seekühe keine Kühe, Meerkatzen keine Katzen …“
„Was du alles weißt!“ Pai staunte mächtig.
Die Waschbärin zuckte mit den Schultern. „Ich bin eben viel unterwegs.“
„Echt?“, fragte Pai. „Erlebst du dabei auch Abenteuer?“
„Na klar“, schnaubte die Waschbärin. „Jede Menge.“
„Ich würde auch so gern ein Abenteuer erleben“, rief Pai sehnsüchtig. „Aber ich darf nicht. Ich soll immer nur brav zu Hause sitzen und meinen Bambus aufessen …“
„Ach so?“, fragte die Waschbärin. „Und was machst du dann hier? Bist du etwa ausgerissen?“
Pai nickte betreten. „Und jetzt finde ich nicht mehr nach Hause!“
„Na bitte.“ Die Waschbärin lachte leise. „Da hast du doch dein Abenteuer!“
Damit hatte die Waschbärin natürlich recht. Und es war ja auch wirklich sehr spannend, dieses allererste Abenteuer. Aber jetzt sollte es lieber aufhören …
„Wenn du so viel unterwegs bist“, überlegte Pai, „weißt du vielleicht auch, wo ich wohne?“
„Klar“, sagte die Waschbärin. „Ist ja nicht weit von hier.“
„Wirklich? Könntest du mich vielleicht …“
Die Waschbärin rollte mit den Augen. „Von mir aus. Aber tritt mir ja nicht auf den Schwanz!“
Und dann lief sie los. Nicht auf den großen Wegen, denn da waren ja die Besucher. Nein, sie huschte lautlos durchs Gebüsch, über Äste, Wurzeln und Steine, sie sprang über Gräben und kletterte über Mauern. Pai sprang und kletterte hinterher, so schnell und leise er nur konnte und ohne ihr auch nur ein einziges Mal auf den Schwanz zu treten.
Nach einer Weile kam Pai die Gegend wieder bekannt vor – und im selben Moment blieb die Waschbärin vor dem Pandagehege stehen.
„So, ich glaube, hier gehörst du hin“, sagte sie und wollte sich gleich wieder davonmachen.
„Warte!“, keuchte Pai. „Ich weiß gar nicht, wie du heißt! Vielleicht besuchst du mich ja einmal? Oder ich verlaufe mich wieder einmal, dann könnte …“
„Ja, ja“, sagte die Waschbärin. „Von mir aus. Frag einfach nach Wanda.“
Und schon verschwand sie im Gebüsch.
Pai kletterte den Zaun hoch.
„Mama, Mama!“, rief er. „Ich bin wieder da!“
Die Pandamama schaute verschlafen aus der Höhle.
„Nanu? Warst du etwa unterwegs?“
„Nur ein bisschen.“ Schnell schlüpfte Pai ins Warme. „Du, die anderen Tiere im Park haben gesagt, ich bin gar kein Panda. Weil Pandas nämlich schwarz und weiß und riesengroß sind!“
„Ach was!“ Pandamama wuschelte ihm durch das Fell. „Nur die Großen Pandas sind schwarz und weiß. Du bist ein Kleiner Panda und Kleine Pandas sind rot.“
„Aber wenn Kleine Pandas groß sind? Werden sie dann schwarz und weiß?“
„Natürlich nicht. Wenn Kleine Pandas groß werden, dann sind sie große Kleine Pandas und sehen genauso aus wie vorher.“
„Hm“, sagte Pai beruhigt. „So ist das also. Und stell dir vor, ich hab außerdem …“
Aber dann erzählte er doch lieber nichts von Wanda, der Waschbärin.
Die sollte sein Geheimnis bleiben. Wenigstens bis zum nächsten Abenteuer.
Du hast für diese Geschichte auf diesem Gerät ein Lesezeichen gesetzt. Wenn du sie das nächste Mal öffnest, kannst du an der markierten Stelle fortfahren.
ok, verstanden